Rezension Stefan Priebe et al., Eingesperrt und nie mehr frei

Rezension von Dr. Karin Jäckel

 

Stefan Priebe, Doris Denis, Michael Bauer (Hrgg.)

Eingesperrt und nie mehr frei

Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR

Dr. Dietrich Steinkopf Verlag, Darmstadt 1996

 

"Eingesperrt und nie mehr frei" ist das Ergebnis einer Studie engagierter Doktoranden und Mitarbeiter der Abteilung Sozialpsychiatrie an der Freien Universität Berlin, die aus purem Erkenntnisinteresse die Folgen politischer Haft in der ehemaligen DDR zu erforschen begannen.

Ihre Ergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass ehemals politisch Verfolgte, Inhaftierte und in der Haft Gefolterte dauerhaft unter großen psychischen Belastungen leiden, jedoch weder angemessen medizinisch betreut, noch zufriedenstellend haftentschädigt werden.

 

Mir fiel das leider vergriffene Werk in die Hände, weil ein Freund es mir zukommen ließ, der als Jugendlicher bei einem Republikfluchtversuch geschnappt und als Stasi-Opfer eingesperrt sowie gefoltert und zu Zwangsarbeit gepresst wurde und der wusste, dass ich durch meinen Großvater väterlicherseits und meinen Vater einen direkten, sehr persönlichen Bezug zu politischer Verfolgung und Inhaftierung durch ein diktatorisches Unrechtssystem habe.

 

Mein Großvater wurde nach dem Ende des zweiten Weltkriegs Opfer der politischen Justiz in der Sowjetischen Besatzungszone und der 1949 gegründeten DDR. Ohne Anklage und ohne zu wissen, warum, wurde er 1948 in einer eisigen Winternacht aus dem Bett gezerrt und, nur mit Schlafanzug und Morgenrock bekleidet, abgeführt sowie in einem Verhör durch brutale Prügel, das Herausreißen von Fingernägeln, stundenlanges Stehen auf einem Bein, durch Folter mit Elektroschock und glühenden Zigaretten, dem Einsalzen des Penis' und durch Dunkelhaft in einer bis zum Knie mit Wasser gefüllten Zelle, in der er nur gebückt stehen konnte, zu vorgegebenen Aussagen und Geständnissen gezwungen.

Nur zwei Tage nach der Inhaftierung meines Großvaters konnte mein Vater sich in letzter Minute durch Flucht aus dem Fenster vor dem Zugriff der SED-Büttel retten, weil ihn ein Freund kurz vor dem Eintreffen der Häscher gewarnt hatte. Meine Mutter rannte mit mir, einem Säugling, zu ihren Eltern. Meine Großmutter war nicht schnell genug. Die vor Wut rasenden SED-Büttel erwischten sie beim Hasenstall im Garten. Sie machten sich nacheinander über sie her, ließen sie für tot liegen.

Als meine Großmutter meinem Großvater nach Wochen etwas anzuziehen ins Gefängnis bringen durfte, erkannte sie ihren eigenen Mann nicht wieder, der vor Schmutz starrte, zum Gerippe abgemagert war, wie ein alter Mann schlurfte und dessen Gesicht ein einziger Bluterguss zu sein schien.

Nach einer Gerichtsverhandlung, die als Farce anzusehen war, wurde mein Großvater wegen Verächtlichmachung und Hetze gegen den Kommunismus, Spionage, Verkaufs einer Porzellanschale an einen Kollaborateur und Diebstahls von Kohle zu 15 Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt und zuletzt, nach einigen Verlegungen, in Bauzen, in der dort als "Gelbes Elend" bekannten Haftanstalt, festgesetzt.

Er sprach nicht viel über die fünf Jahre, die er dort verbrachte, ehe er freigekauft und in den Westen abgeschoben wurde. Aber so lange ich mich an ihn erinnere, konnte er keine Glühbirne wechseln und begann schlotternd zu zittern, sobald ein Wasserhahn tropfte. Seine Schienbeine, Brust und Achselhöhlen waren mit rundlichen, seltsam sternförmig vernarbten hellen Flecken übersät, die ich viele Jahre später, lang nach dem Tod meines Großvaters, als Brandnarben begriff, wie sie von glühenden Zigaretten herrühren.

 

Ich war nicht ganz drei Jahre alt, als mein Großvater zu uns kam. Die Erinnerung an den bleichen, grausam dicken Mann in einem grauen Mantel, mit Filzpantoffeln an den Füßen und einem Pappköfferchen unter dem Arm, der weinend über die Bahnschienen auf uns zu humpelte, ist mir wie eine Blitzaufnahme eingebrannt. Lange lag er zu Bett und als er aufstand, war das Gewebewasser aus seinem Körper ausgetreten und er so dürr, dass er die Hose mit einem Kälberstrick am Leib festbinden musste.

 

Gedichte, Lieder und seine Klarinette, sagte er, hätten ihm geholfen, nicht wahnsinnig zu werden. Texte und Noten, die er irgendwann auswendig gelernt hatte und in der Finsternis von Dunkelhaft, der Unerträglichkeit von Einzelhaft und Totenstille, in der nur ein Wasserhahn tropfte und Tropfen für Tropfen auf dieselbe Stelle platschte, rekapitulierte und als seinen größten Schatz erachtete. Musikstücke, die er seinen Peinigern vorzuspielen hatte, retteten ihm das Leben.

Meine ersten eigenen Verse und Reime erdachte ich mit ihm, meinem Opa.

 

Die Lektüre des Buches hat mich in diese Jahre meines Großvaters mitgenommen. Sie vermittelte mir einen wahrhaft atemberaubenden Eindruck über die Unerträglichkeit des Seins als politisches Justizopfer in der DDR, über die Selbstverständlichkeit des freudigen Gehorsams ihrer willigen Vollstrecker und den ungeheuren Freiheitswillen der Geschundenen.

 

So, wie die Nazi-Diktatur in Deutschland geächtet ist, so muss die DDR-Diktatur geächtet sein. Beide Regime waren menschenverachtende, Menschenwürde und -rechte missachtende Unrechtsysteme.

 

Zu Recht ist das Leugnen des Holocaust strafbar. Zu Recht geht man strafrechtlich gegen Neo-Nazis und andere ewig Gestrige vor. Ebenso strafbar muss das Leugnen der DDR als Diktatur sein.

Die überlebenden Opfer aus der SED/Stasi-Haft verdienen öffentlich größten Respekt und Anerkennung für ihren Mut zur Freiheit und Demokratie. Es muss gewürdigt werden, dass politisch Verfolgte seelische und körperliche Belastungen erfahren (haben), durch die sie dauerhaft geschädigt werden.

 

 

Eingesperrt und nie mehr frei - sollte nicht vergriffen, sondern ein Bestseller und Pflichtlektüre in allen Schulsystemen sein.

 

© Dr. Karin Jäckel, www.karin-jaeckel.de