9. Dezember

 

VOM TANNENBAUM, DER NIE GOLDENE ZAPFEN BEKAM

 

©Karin Jäckel

 

Am Waldrand stand zwischen Büschen und Heidekraut eine kleine, schiefe Tanne. Einmal, als der Winter wieder einmal besonders streng und schneereich hereingebrochen war, hing der Förster viele Meisenknödel und ein Vogelhäuschen in ihre Zweige und füllte es reichlich mit Vogelfutter. So konnte der kleine Baum den ganzen Tag dem Schwatzen der Vögel lauschen.

„In der Stadt hängen schon Weihnachtslichterketten über den Straßen“, wussten die Spatzen, die in allen Gassen daheim waren. „Und wenn man Glück hat, findet man Krümel von braunen Lebkuchen und süßen Weihnachtsplätzchen in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen auf dem Marktplatz. Köstlich, köstlich, können wir da nur sagen.“

„Beim Brunnen steht der erste Weihnachtsbaum“, zwitscherten die Meisen.

„Ja und morgen“, tschilpten die Finken dazwischen, „will der Förster Waldarbeiter zu uns in den Wald schicken, die Tannenbäume fürs Fest holen sollen.“

„Die werden dann verkauft und mit roten Kugeln und Schleifen geschmückt“, pfiff der Dompfaff, der alles immer ganz genau wissen musste.

„Und mit vielen Kerzen“, piepste ein Rotschwänzchen.

„Ja, die leuchten wie kleine Sonnen, wenn sie angezündet werden“, schnickerte ein Rotkehlchen, das nach Insekten suchte, die sich zwischen den Tannnadeln versteckt hatten.

„Aber am schönsten sind doch goldene Tannenzapfen“, gurrte eine Taube, die in der Stadt aus einem Taubenschlag fortgeflogen war, wo sie als Brieftaube gearbeitet hatte, und seitdem in einer besonders hohen Tanne wohnte.

Die kleine Tanne versuchte, ihre Schneemütze abzuschütteln, um größer auszusehen. „Meint ihr, die Waldarbeiter nehmen auch mich einmal mit?“, fragte sie gespannt.

Die Vögel hörten verwundert auf zu fressen und zu erzählen.

„Dich?“, kreischte eine Elster, die vergeblich versuchte, sich einen Meisenknödel zu schnappen. „Weißt du nicht, dass nur die allerschönsten gebraucht werden?“ Schnell holte sie eine Spiegelscherbe aus ihrem Nest, die sie irgendwo gefunden und mitgenommen hatte, weil sie alles liebte, was glitzerte. „Schau doch selbst, wie schön du bist!“

Da erblickte die kleine Tanne zum ersten Mal ihre schief gewachsenen Zweige und den Stamm, der wie ein Fragezeichen verbogen war, und schämte sich sehr.

Am nächsten Morgen kamen die Holzfäller tatsächlich. Sie suchten wirklich nur die schönsten Tannen aus, sägten sie ab und fuhren in großen Lastwagen mit ihnen davon. Die kleine Tanne sah alles mit an und weinte Tränen aus bitterem Harz.

Mehrere Tage oder sogar Wochen vergingen, da kam der Förster wieder an den Waldrand, um frische Meisenknödel aufzuhängen und das Vogelhaus neu zu füllen. Auf einem Anhänger brachte er vier Baumstämme mit, die der kleinen Tanne bekannt vorkamen. Wunderbar gerade waren sie gewachsen, doch die Nadeln waren braun und dürr geworden, und unter dem obersten Kranz seiner Zweige glänzte bei einem von ihnen ein goldener Tannenzapfen.

Einen nach dem anderen warf der Förster die Stämme in den Schnee. „Sollen die Hasen sich unter euch verstecken, dann seid ihr doch noch zu etwas nutze“, brummte er und fuhr davon.

Gleich sauste ein Eichhörnchen aus seinem warmen Nest in einer Baumhöhle nebenan, griff nach dem goldenen Zapfen und biss hinein. Doch kaum hatte es das erste goldene Samenkorn zwischen den Zähnen, warf es den ganzen Zapfen schimpfend fort. „Pfui, der ist ja steinhart und ungenießbar!“

Die kleine Tanne musste lachen. Plötzlich machte es ihr gar nichts mehr aus, dass sie krumm und schief gewachsen war. Stattdessen reckte sie alle ihre grünen Zweige in den Wind und schüttelte sich, dass die Schneehaube, unter der sie sich versteckt hatte, davonflog.

„Komm!“, rief sie dem Eichhörnchen zu und winkte auch die Vögel herbei. „Goldene Körner habe ich zwar nicht, aber braune, köstlich-frische. Kommt, kommt alle herbei und lasst es euch schmecken.“

Fröhlich sah sie zu, wie ihre Gäste schmausten und schnabulierten. Ringsum glitzerte der Schnee im Winterlicht. Es duftete nach Wald. Ein paar Flocken wirbelten im Wind. Und die kleine Tanne war glücklich. „Und wenn ich auch nie ein Weihnachtsbaum werde und niemals Kerzen wie goldene Sonnen habe“, dachte sie, „so bleibe ich doch lieber grün alle Tage, als nur ein einziges Mal im Leben einen goldenen Tannenzapfen zu tragen.“