8. Dezember

 

Weihnachtsliebe

 

©Heidrun Hurst

 

Verena befuhr eine einsame Landstraße, als ihr Auto den Geist aufgab. Das darf nicht wahr sein, dachte sie. Ausgerechnet jetzt, auf dem Weg zu einem lebenswichtigen Date! Ihre biologische Uhr tickte. Es wurde höchste Zeit für einen Mann, Geborgenheit und Liebe, auch wenn Timo nicht zur ersten Wahl gehörte. Vielleicht würde das die Leere füllen, die sie schon länger in sich spürte? Mechanisch griff sie nach dem Handy. Das Display blieb dunkel, als sie es bedienen wollte. »Mist!« Sie hatte vergessen es aufzuladen.

Plötzlich wurde die Beifahrertür mit einem Ruck geöffnet. »Guten Abend, schönes Kind«, sagte ein Mann, auf den diese Beschreibung nicht zutraf. »Darf ich hereinkommen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, setzte er sich und verschloss der Kälte einen Weg ins Innere. »Wie gut, dass ich dich hier treffe. Um diese Jahreszeit wird es nachts ziemlich frostig.«

Verärgert und auch ein wenig ängstlich betrachtete Verena ihn. Er sah aus wie ein Hobbit, mit einem gedrungenen Körper und fast paradiesischen Apfelbäckchen in dem schmutzigen Gesicht. Ihr Blick fuhr in den Fußraum, als ob sie nach Pelz an seinen Füßen Ausschau halten müsse. Allzu gefährlich schien er nicht zu sein. Doch Hobbits waren sauberer und dieser Kerl würde den cremefarbenen Autositz ruinieren, auf dem er sich ausstreckte.

Er stellte eine Flasche Rotwein zwischen die Knie, zog den Korken heraus und befüllte zwei Plastikbecher. »Willst du einen Schluck?« Mit einer einladenden Geste bot er ihr den Wein an.

»Ich wüsste nicht, dass wir uns verbrüdert hätten«, erwiderte sie eisig. Zweifellos war er ein Penner.

»Nun komm schon«, seine Stimme klang sanft. »Es ist schließlich Weihnachten. Die Zeit, die uns einen Gottessohn beschert hat. In einem Stall, wenn ich mich recht erinnere. Wahrscheinlich hat er genauso gestunken wie ich.«

Sie seufzte, nahm ihm aber den Becher ab. Der Alkohol würde ihre Nerven beruhigen und hoffentlich die Bakterien abtöten, die darauf herumwimmelten.

»Eines verstehe ich allerdings nicht«, philosophierte er weiter. »Welcher Gott kommt auf die Idee, seinen Sohn ausgerechnet in einem Stall unterzubringen? Das ist doch lächerlich. Und warum wird er ein Mensch, wenn er es im Himmel so viel besser hatte?«

»Glauben Sie an die Weihnachtsgeschichte?«

»Warum nicht? Obwohl ich den Tanz darum nicht verstehe. Ich meine, worum geht es den Leuten überhaupt? Um ein friedvolles Fest im Kreis der Familie? Um das gekünstelte Gesülze von Liebe, wenigstens für ein paar Stunden? Mein letztes Weihnachten dieser Art endete wie gewöhnlich im Streit. Seither hat meine Sippe kein Wort mehr mit mir gewechselt. Und auch sonst hat es kaum jemand getan. Außer dir, meine Schöne.« Er lachte listig. »Aber dir bleibt keine Wahl.«

»Ich denke, dass dies nicht die eigentliche Bestimmung von Weihnachten ist«, erwiderte sie.

»Und was ist sie deiner Meinung nach?«

Sie blickte auf den schmutzigen Mann, dachte an ihre Abneigung ihm gegenüber. »Ich schätze, Jesus wurde dort geboren, weil er nicht besser sein wollte als wir. Wer kann das Elend leichter verstehen, als jener, der es erlebt hat?«

»Das ist wohl war«, erwiderte er. »Und auch eine Form von Liebe, wenn man sich auf etwas herabwürdigt, das man nicht nötig hat. - Du kennst die Geschichte recht gut.«

»Meine Oma hat sie mir erzählt, aber das ist lange her. Seither habe ich mich weit davon entfernt.«

»Wir alle, wie mir scheint«, sagte er bitter.

Eine erstaunliche Erkenntnis für einen Penner wie ihn, dachte Verena. Langsam begann sie sich zu fragen, ob es wirklich der Zufall war, der sie zusammengeführt hatte. Im Grunde war er innerlich genauso leer wie sie.

»Wie dem auch sei«, sie prostete ihm zu. »Es ist nie zu spät, sich mit Weihnachtsliebe zu befassen.« Vielleicht konnte tatsächlich ein wenig mehr davon die innere Leere füllen? »Frohe Weihnachten!«