6. Dezember

 

Der Ziegeneimer

 

©Peter Winter

 

Die feuchte Dämmerung schleicht lautlos aus der winterlichen Wüste in die trostlosen Lehmhäuser. Langsam kriecht klamme Kälte über den aufgeweichten Straßendreck auf die kleine Menschengruppe zu, die erschöpft an einer regennassen Hauswand kauert. Wimmernd schiebt sich ein kleines Mädchen enger an seine Mutter heran, um sich die stechenden Nadelstiche aus den frostigen Fingerkuppen reiben zu lassen. Die verzweifelte Frau weint lautlos, Tränen tropfen auf das dicke Schafwollkopftuch des Kindes.

Mit hartem Schritt zieht eine römische Patrouille die enge Straße herauf. Die Lanzen der Legionäre klopfen im Marschrhythmus dumpf gegen ihre großen Schilde, die Lederriemen ihrer Rüstungen quietschen bei jedem Schritt leise mit. „Aus dem Weg, ihr Hunde!“ herrscht der Patrouillenführer die in dreckige Decken gewickelte Gruppe an. Verängstigt pressen sich Männer, Frauen und Kinder enger an die graue Wand, um die grimmigen Waffenträger vorbeizulassen.

Während die genagelten Schritte der Soldaten an den letzten Häusern des Ortes verhallen, zischt eine rundliche Frau im bestickten Fellmantel ihrer ärmlichen Nachbarin, die neugierig den Kopf aus der Haustüre steckt, hasserfüllt ins Ohr: „Diese verdammten Römer! Möge der Engel des Herrn sie noch heute Nacht im Meer ersäufen, diese blutsaugenden Gojim...“.

„...samt ihrer gottlosen Registrierung!“ pflichtet ihr die Angesprochene flüsternd bei. „Mein Mann hat seine gesamte Mischpoke bei uns einquartiert. Ich kann mich im Haus kaum umdrehen, so voll ist es. Und bei den neuen 'Registrierungspreisen' am Markt reicht's bei den vielen Mäuler kaum für Hirsesuppe und Brot.“

Die wohlhabende Nachbarin ist fassungslos: „Die ganze Sippe bei euch einquartiert? Kostenlos? Weiß dein Mann eigentlich, wie viel Geld er damit zum Fenster hinauswirft, jetzt während der Registrierung? Ihr habt's doch nun wirklich nicht so dicke...!" Scheppernd stellt sie ihren Eimer ab. "Wir haben das ganze Haus an Fremde vermietet. Das rechnet sich, dass kannst du mir glauben!“

„Habt Ihr nicht auch auswärtige Verwandtschaft?“

„Ach, bleib mir bloß weg damit! Josef, diesen Zimmermann, einen Neffen meines Mannes und seine Frau Maria. Bettelarm, sie hoch schwanger. Haben sich hinten beim Wirt im Stall verkrochen."

Die Nachbarin ist überrascht: „Habt ihr denn keinen Platz?"

„Wir? Mein Mann und ich sind ja selbst in den Ziegenstall umgezogen. Ekelhaft!" Die Türsteherin schüttelt den Kopf: „Du Ärmste!"

Die andere hebt ihren Eimer wieder auf: „Die Frau soll in den nächsten Stunden niederkommen, die Hebamme ist bereits da. Ich bringe ihnen unseren alten Ziegeneimer, die Hebamme braucht ein Wassergefäß."

Die Türsteherin schüttelt weiter den Kopf: „Die Ärmste!" 

Die Eimerträgerin im Gehen: „Ja, so geht's. Müssen die Ziegen eben aus dem Schafstrog saufen. Aber heute muss jeder selber zusehen, wie er über die Runden kommt!“