5. Dezember

Foto Karin Jäckel
Foto Karin Jäckel

 

Es war Nikolaustag,

 

stockdunkel und es gab

 

noch kein Mobiltelefon.

 

©Raimund Müller

 

„Klatsch!“ Er schlägt die Beifahrertür seiner Fahrgemeinschaft zu. „Dann geh‘ ich ihr ein Stück entgegen“.

„Mit dem Gepäck?“, hört er die Stimme seines Kollegen. „Warte, bis deine Frau eingetroffen ist. Das wird schlimmer, habe den Wetterbericht gehört!“

Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. „Nein, ist in Ordnung, ich brauch noch ein wenig frische Luft“.

In Wahrheit freut er sich wie ein Bub über den unerwarteten Schnee. Er könnte hindurchstapfen, Spuren hinterlassen, Schneebälle gegen die Straßenschilder donnern - aber natürlich unbeobachtet. Schließlich ist er 42, Beamter, Vater von 5 Kindern! Oder mal wieder den Namen in den Schnee pinkeln? Er lacht. Aber erst außerhalb der Ortschaft, und bis dahin hätte ihn sein Schatz eingeholt.

 

Er packt die klobige Aktentasche in die Rechte, wirft das geschnürte Bündel Geschenke über die Schulter seines Wintermantels und stapft los. Die Luft ist eiskalt erfrischend. Scheinwerfer des Feierabendverkehrs tasten ihn ab oder verschwinden im Gewirbel. Er weicht auf den linken Straßenrand aus, damit sein Schatz ihn gleich sähe und halten könnte.  Ist es nicht märchenhaft durch die schneebedeckte Flur nach Hause zu stapfen? Wann hätte er je wieder Gelegenheit dies zu genießen?

Der Verkehr nimmt ab, das Schneetreiben zu, die Lichter der Stadt liegen hinter ihm. Herrlich diese Stimmung. Er genießt seine Wanderung, hört in sich hinein, spürt sein Herz schlagen, fühlt den Atem, die Flocken im Gesicht, als Wasser in den Vollbart tropfen. Mit niemandem will er jetzt tauschen. Nur die Gepäckstücke wechseln die Hände. Aktentasche links, Geschenkbündel rechte Schulter.

 

Kommt da nicht ein weißer VW-Bus auf ihn zu? Das müsste sie sein. – Nein, war sie nicht! Der Weg zieht sich ganz schön dahin. Im Sommer fiel ihm das nicht auf. Bündel linke Schulter – Aktentasche rechts. Ob sie bereits an ihm durch ist? Hatte sie ihn vergessen?

Er ist jetzt schon fast eine Stunde in diesem Dreckswetter unterwegs. „Verdammt nochmal, wo bleibt die denn?“

Links -Rechts! Seine Füße sind Eisklumpen, die Finger in den Handschuhen schmerzen, Schweiß läuft ihm unter der Pelzkappe in den Bart und gefriert augenblicklich zu Eiszapfen. Rechts-Links!

 

Jetzt beginnt die freie Fläche, kein schützendes Haus, nicht einmal ein Baum. Die kleinen Kristalle verwandeln sich zu scharfkantigen Eisklumpen, die sein Gesicht zerschneiden und ihm den Atem rauben. Noch 3 Km!

Links-Rechts? Die Finger gehorchen nicht mehr. Soll er den ganzen Krempel in den Schnee werfen? Hier kommt heute kein Mensch mehr vorbei und seine Alte auch nicht, das hat er mittlerweile begriffen.

„Diese blöde Kuh! Wahrscheinlich quatscht sie wieder mit ihrer Freundin und hat mich total vergessen.“ Zorn verzerrt sein Gesicht, seine Nase läuft, er schnieft und schnaubt, torkelt über weiße Unebenheiten, stolpert, schlägt der Länge nach hin. Das bringt sein Fass zum Überlaufen. In diesem Moment könnte er sie in der Luft zerreißen. Mühsam rappelt er sich auf.

Wenigstens die Finger funktionieren wieder. Gepäck rechts-links. Auf die Zähne gebissen! „Na warte, die kann was erleben.“  Der Straßenverlauf ist nur noch an den Leitpfosten zu erkennen.

 

Eine Stunde später stapft er durch den tief verschneiten Garten seines alten Bauernhauses. Der Sturm hat sich gelegt, nur noch leise rieselt der Schnee. Er drückt seine Nase an dem hellerleuchteten Küchenfenster platt. Dahinter steht sein Schatz, eifrig dabei, mit den Kleinen Teig auszuwalken, Brötchen auszustechen und Nüsse aufs Gebäck zu drücken. Das Herz geht ihm auf. Er klopft.

Erschrocken fahren die Kinder herum: „Mama schau, der Nikolaus ist da!“