23.Dezember

Heilige Nacht     Foto Karin Jäckel
Heilige Nacht Foto Karin Jäckel

 

WER KLOPFET AN ... 

 

Die Weihnachtsgeschichte anders erzählt

 

©Karin Jäckel

 

 

 Mira und Malik sind Kurden. Sie haben sich lieb und erwarten ein Kind. Es soll bald schon geboren werden. Doch Malik hat Angst vor den Soldaten, die jeden Tag mit Maschinengewehren durch sein Dorf patrouillieren und viele Menschen ins Gefängnis schleppen. Er möchte mit seiner Familie in Frieden leben. Ihr Kind soll zur Schule gehen, einen guten Beruf erlernen und glücklich sein. 

Mira und Malik beschließen, ihr Land zu verlassen und zu fliehen. Sie verkaufen alles, was sie besitzen, bezahlen davon einen Schlepper und werden auf einem Schlauchboot mitgenommen.

Sie fahren mit viel zu vielen Menschen hinaus aufs Meer. Mira hat große Angst. Malik hat auch Angst. Aber er zeigt es nicht. Stattdessen tröstet und beruhigt er Mira. Alles wird gut werden, wenn sie erst an Land sind. Er wird sich eine Arbeit suchen. Sie werden eine schöne Wohnung mieten und glücklich sein.

Als sie am Horizont einen Streifen Land sehen, beginnt plötzlich das Schlauchboot Luft zu verlieren. Wasser dringt ein. Laut rufen und winken die Flüchtlinge um Hilfe. Doch das Schiff, das sie von weitem sehen, kommt nicht näher. Wellen schlagen über Bord. Die Flüchtlinge schöpfen und schöpfen. Obwohl sie alle mit beiden Händen arbeiten, läuft das Schlauchboot immer wieder voll und hängt schief. Bald wird es sinken.

Verzweifelt werfen die Flüchtlinge alles fort, was sie nicht brauchen. Auch ein Wasserkanister ist dabei. Als Malik sieht, dass dieser schwimmt, packt er Miras Hand und springt zusammen mit ihr ins Meer. Das Wasser ist kalt, doch Malik kann den Kanister ergreifen, ehe dieser mit den Wellen abtreibt. Daran halten er und Mira sich fest und versuchen, sich trotz der hohen Wellend über Wasser zu halten. Hinter sich hören sie die anderen schreien, fluchen und weinen. Immer mehr Menschen fallen ins Wasser, gehen unter. Es ist entsetzlich.

Kurz bevor das Schlauboot sinkt, kommt ein Fischkutter zur Hilfe. Die Mannschaft setzt ein Rettungsboot aus, lässt Strickleitern herunter und wirft Rettungsringe. Viele werden gerettet, alle nicht. Auch Mira und Malik werden an Bord gezogen. Zitternd kauern sie unter einer Rettungsplane.

Als der Kutter im Hafen anlegt, erkennen sie sofort, dass sie in einem reichen Land angekommen sind. Aber sie hören auch, dass sie nicht bleiben dürfen. Sie sind nicht willkommen. Mira und Malik verstehen nur wenige Worte. Doch sie begreifen, dass sie in einer Turnhalle als Notunterkunft untergebracht werden sollen. Einige Leute bringen Feldbetten, Decken, Wasser und Lebensmittel. Es ist kurz vor Weihnachten, das Fest der Liebe. Für ein paar Tage werden alle in Sicherheit sein. Aber nach dem Fest will man sie fort, auf eine Insel schicken, wo schon viele sind, die niemand aufnehmen will.

Mira weint, als sie versteht, was das bedeutet. Malik nimmt sie in die Arme. Flüsternd beraten sie sich. Sie wollen nicht in ihre Heimat zurück und auch nicht auf diese Insel. Am Abend nach ihrer Ankunft schleichen sie sich heimlich davon.

Sie irren sie durch dunkle Gassen und klopfen überall um Herberge an. Hinter allen Fenstern glänzen Weihnachtsbäume mit ihren Kerzen. Menschen feiern und lachen. Manche öffnen den Flüchtlingen, um ihnen Almosen zu geben, doch keiner lässt sie ein. Mira und Malik kehren trotzdem nicht in die Notunterkunft zurück.

Als sie schon weit von der Stadt entfernt sind, finden sie einen Schuppen auf einem Acker. Mira ist am Ende ihrer Kraft. Sie spürt, dass ihr Baby geboren werden will. Malik bricht die Tür auf. Drinnen ist es trocken. Ein paar Strohballen liegen auf dem Boden. An einem Holzzapfen hängt eine Decke. Erleichtert breitet Mira sie über dem Stroh aus und legt sich nieder.

Malik weiß nicht, was er tun soll. Er kann seine Frau nicht allein lassen und muss doch Hilfe holen. Liebevoll umarmt er Mira und verspricht, so schnell er kann, wieder bei ihr zu sein. Dann rennt er in die Nacht hinaus. Die Sterne leuchten so klar, dass er den Weg zu einem Bauernhof findet. Er klopft an die Fenster und läutet Sturm an der Tür. Leute kommen heraus. Sie wollen wissen, was passiert ist, doch Malik kennt ihre Sprache nicht. Er formt mit beiden Händen einen schwangeren Bauch und weint wie ein Baby. Dabei winkt er den Leuten zu, mit ihm zu kommen und zu helfen. 

Als Erste lässt sich ein kleines Mädchen überzeugen und ergreift Maliks Hand. Die Mutter des Mädchens will abwehren, doch das Kind lässt sich nicht wegziehen. Es will Malik begleiten. Zögernd gibt die Mutter nach und packt alles, was man für ein Neugeborenes braucht, in einen Korb. Auch der Vater, zwei alte Leute und die anderen Kinder wollen nun mitkommen. Mit einer großen Holzlaterne leuchten sie auf dem Weg.

Malik läuft allen voraus. Staunend sieht er Mira und ihr Kind auf den wenigen sauberen Sachen ruhen, die sie in der Notunterkunft geschenkt bekamen und mitgenommen haben. Mira lächelt und zeigt ihm das Köpfchen des Babys. „Es ist ein Mädchen“, sagt sie. „Unsere Tochter.“

Die Mutter des Mädchens, das Malik unbedingt begleiten wollte, ist zuerst bei ihnen und beugt sich freundlich zu Mira vor. Sie wickelt das Baby in ein frisches Tuch und schlingt eine warme Decke darum. Dann gibt sie Mira etwas zu trinken.

Auf einmal wollen auch alle anderen helfen. Gemeinsam stützen sie Mira beim Aufstehen und führen sie langsam zum Haus. Malik trägt das Baby. Es ist so winzig und leicht. Malik kann nicht aufhören zu staunen.

Schon auf dem Rückweg zum Bauernhof ruft der Bauer den Notarzt an. Dieser untersucht Mira und das Kind. Auch die Polizei ist plötzlich da. Die Beamten wollen Malik abführen, weil er keinen Pass und keine Aufenthaltserlaubnis hat, doch die Kinder bilden einen schützenden Kreis um Mira, das Baby und Malik. Auch die Erwachsenen stellen sich auf die Seite der Kinder.

„Es ist Weihnachten!“, sagt der Vater des Mädchens, das zuerst Zutrauen zu Malik gefasst hat. „Das junge Paar und das Kind sind unsere Gäste. Ihr könnt nach den Feiertagen wiederkommen. Dann ziehen wir einen Rechtsanwalt hinzu und sehen weiter.“

Die Polizisten geben nach. Sie lassen zu, dass die Bauersleute die jungen Eltern mit ihrem Baby bei sich aufnehmen.

Als der Polizeiwagen fortfährt, ergreift das kleine Mädchen Mira und Malik bei der Hand und führt alle ins Wohnzimmer, wo sie beim Tannenbaum Platz nehmen. Die Mutter des Mädchens zündet die elektrischen Kerzen an. Der Vater legt ein dickes Stück Holz auf das Kaminfeuer. Die Großmutter lädt zum festlich gedeckten Tisch und der Großvater öffnet seine beste Flasche Wein. „Jetzt kann Weihnachten kommen“, sagt die Mutter und lächelt die Gäste an. „Das Christkind ist ja schon da.“