22.Dezember

Foto Karin Jäckel
Foto Karin Jäckel

 

Der Weihnachtskarpfen

 

©Karin Jäckel

 

Jobst und Ulla sahen sich verstohlen an. „Ob Mama wohl auch schon von Weihnachten  träumt?", wisperte Ulla und nickte zu Mutter hin, die leise mit dem Schaukelstuhl wippte.

Deren Handarbeit lag still im Schoß, und jedes Mal, wenn der Stuhl vorschwang, huschte das Licht der Adventskerzen golden über ihr Gesicht.

 

„Dieses Jahr“,  sagte sie plötzlich, „dieses Jahr möchte ich es am Heiligen Abend einmal wieder genauso haben wie als Kind."

Vater blickte von seinem Buch hoch. „Und wie soll das sein, Schatz?", fragte er.

„Ich meine, wir sollten uns Geschichten erzählen, die Kinder sollten den Baum schmücken,

und am Abend möchte ich einen gebackenen Karpfen essen."

„Karpfen?", wiederholte Vater. „Zum Weihnachtsfestmahl willst du Fisch essen?"

Auch Jobst und Ulla verzogen ein wenig den Mund.

„Hm, ja!", lachte Mutter und nahm ihre Handarbeit auf.  „So war es bei uns zu Hause immer. Du glaubst nicht, wie lecker ein Karpfen mit Butter und Zitrone schmeckt."

„Muss das sein?" Vater stöhnte. „Du weißt doch ganz genau, dass ich keinen Fisch mag."

„Einmal kannst du ihn schon essen; mir zuliebe", schmeichelte Mutter. „Auf dem Markt gibt es jetzt immer welche. Man kann ihn ein paar Tage in der Badewanne schwimmen lassen. Das haben wir früher auch so gemacht."

„Und wer soll ihn nachher schlachten?", fragte Jobst. 

„Er natürlich", antwortete Mutter. Ihre braunen Augen strahlten Vater an.

„Auch das noch!", sagte der. Aber als er ihren Blick sah, wehrte er sich nicht.

 

Am anderen Morgen gingen alle zum Markt. Karpfen gab es wirklich genug.

Mutter wählte mit Bedacht. „Den nehmen wir", sagte sie endlich und zeigte auf ein riesiges Tier mit großen silbern glänzenden Schuppen, das, Buckel an Buckel mit anderen Karpfen, in einem engen Bottich auf Käufer wartete.

„Der macht ja ein ganzes Rudel Wölfe satt!", rief Vater entsetzt.

Ringsum grinsten Leute, ein Mädchen kicherte.

Mutter drehte sich kurz zu Vater um. „Sagtest du etwas, Liebling?", fragte sie.  Vater schüttelte stumm den Kopf.

 

So wurde der Karpfen in eine mitgebrachte Plastikwanne gesetzt.

Jobst und Ulla trugen ihn zwischen sich nach Hause.

Der Karpfen bewegte kaum merklich die Flossen. Vereinzelt stiegen Luftblasen auf, wenn er seine wulstigen Lippen öffnete und schloss. Manchmal ruckten seine vorgewölbten Augen wie Glaskugeln hin und her.

„Er sieht traurig aus. Findest du nicht?", meinte Ulla.

Jobst nickte. „Was glaubst du, wie du aussehen würdest, wenn dich einer gefangen hätte und demnächst schlachten und auffressen wollte?"

Mit ihrer freien Hand zupfte Ulla an Mutters Mantelärmel. „Mama“, fragte sie leise, „wollen wir den Fisch wirklich essen?"

 

Mutter blieb stehen. „Und ob! Wir haben ihn gekauft. Wir haben ihn bezahlt. Er gehört uns. Warum sollten wir ihn wohl nicht essen?“  

„Aber er lebt doch noch“, sagte Ulla.

„Na und?“ Mutter lachte und hing sich bei Vater ein. „Hähnchen leben auch, ehe du sie isst.“

„Schon“, mischte Jobst sich ein. „Aber die sehen wir vorher nicht. Die kaufen wir ja nicht lebend.“

„Papperlapapp!“ Mutter wollte sich ihren Traum vom Weihnachtsfest wie zur eigenen Kinderzeit nicht vermiesen lassen. „Wenn der Karpfen erst einmal lecker zubereitet ist, wollt ihr alle zusammen garantiert nie wieder Gänsebraten haben."

 

Zu Hause setzte sich jeder zu seiner Weihnachtsbastelei, um die letzten Handgriffe daran zu tun. Der Karpfen schwamm indessen träge in der Badewanne.

„Der arme Kerl hat Angst vor uns", sagte Jobst zu Ulla „Wenn ich den Finger ins Wasser stecke, haut er sofort ab."

„Ich wollte, wir hätten ihn nie gekauft", seufzte seine Schwester. „Wie unglücklich er aussieht!“

Jobst nickte. „Ich könnte ihn nie umbringen. Und wenn er auf dem Tisch steht, bringe ich bestimmt keinen Bissen davon herunter."

Ulla zuckte ratlos mit den Schultern.

 

Auch Vater musterte den grauen Fisch in der Badewanne immer wieder und führte morgens beim Waschen lange traurige Gespräche mit ihm.

Mutter ärgerte sich. „Bei uns zu Hause gab es nie so einen Aufstand."

 

Am Nachmittag des Heiligen Abends versuchten Jobst und Ulla ein Mühlespiel, um nicht dauernd an den Karpfen denken zu müssen. Vater raschelte mit der Zeitung und tat, als lese er ganz gemütlich, wartete aber jede Sekunde darauf, dass Mutter ihn auffordern würden, den Karpfen zu schlachten.

 

In der Küche war alles vorbereitet. Das lange Küchenmesser war frisch geschärft. Mutter hatte sogar einen neuen Bräter gekauft, um den großen Fisch am Stück zubereiten zu können. Der Duft des im Mörser zerstoßenen Fischgewürzes mischte sich mit dem von nelkengespickten Zwiebeln, Zimt, Anis, Honigkerzen und frischem Tannengrün.

 

Plötzlich sprang die Tür auf. Mutter stand blass auf der Schwelle. In ihrer Hand hing ihr größtes Küchenmesser.

„Ich wollte ihn selber schlachten", sagte sie tonlos. „Ich dachte, es wäre ganz einfach. Aber er sieht mich so trostlos an. Ich kann es nicht tun."

 

Ehe Vater reagieren konnte, sprang Ulla auf Mutter zu und fiel ihr um den Hals. „Jetzt lassen wir ihn frei, ja?"

Alle, auch Mutter, nickten. 

 

Als der Karpfen mit einem Plumpsen im städtischen Ententeich verschwunden war,

nahm Vater Mutter mitsamt den Kindern in den Arm und sagte: „Habt ihr es auch gehört? Das Plumpsen eben hieß: Fröhliche Weihnachten."  

 

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