20.Dezember

 

Licht und Liebe

 

©Anita Vogel, 2015

 

Die Bilder großer Maler über die Geburt Christi sind durchdrungen vom lichtvollen Ausdruck der Liebe und Freude. Und doch liegen in diesen Gemälden, wenn auch unscheinbar und überstrahlt, Zeichen dunkler Vorahnung, ob es die Brüchigkeit des Gebäudes ist oder die Windel schon das Leichentuch andeutet. Geburt und Tod, Licht und Liebe – so untrennbar verbunden.

 

In mir lösen sie eine Kette ganz eigener, persönlicher Weihnachtseindrücke aus, die um Geburt und Tod, Mutter und Kind kreisen. Erinnerungen an meine eigene Mutter tauchen auf.  Impressionen, die im Wirbel der rasenden Zeit sich wie Momentaufnahmen unauslöschlich einprägten. Augenblicke, die wie ein Hauch aus der Ewigkeit herüber wehen.

 

Es war im Advent voriges Jahr, als meine Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben nach vielen Jahrzehnten, in denen sie die weihnachtlichen Gestaltungen mit immer neuen Ideen vornahm, die kleinen Bäume auf der Terrasse nicht mehr schmücken konnte. Erstmals dekorierte deshalb ich die Lichterketten draußen, während Mutter mir durch die Fensterscheibe zusah. Sie, die sonst so ungebrochen tüchtig und aktiv war, schien mir auf einmal in ihrer Schwäche ungewohnt scheu und zaghaft. Sie hatte die Gardine ein wenig weggeschoben, und ich sah Mutters Bild undeutlich gespiegelt im Fensterglas. Wie mag es in ihr ausgesehen haben? Sie, die erst kurz vorher schwerstkrank wurde, ahnte wahrscheinlich in ihrem tiefsten Innern, dass es ihre letzte Weihnacht sein würde.  

 

Ich sah ihr liebes Gesicht hinter dem spiegelnden Fensterglas, krank und blass. Sie winkte mir zu. Es schien mir, als säße sie in einem Zug und winkte an der Fensterscheibe zum nahen Abschied. Ab und zu ging ich hinein zu ihr und bat sie um Tipps. Sie saß im Wohnzimmer, in ihre Decken eingehüllt und geschwächt, doch weich und bequem auf ihrem Sessel und freute sich, gefragt zu werden. Immer noch lebhaften Geistes dachte sie intensiv mit und wir besprachen die optimalen Weihnachtsschmuckkombinationen.  Es war so wohltuend, bei ihr zu sein.

 

Dann wieder draußen in der starren lichtarmen Kälte dieser jähe Schmerz der erahnten Trennung von meiner Mutter. Die ich vorfühlte, die wohl auch sie vorfühlte. Niemals werde ich ihren Blick durch die Glasscheiben vergessen und den Moment, als unsere Blicke sich wie spiegelbildlich trafen. Mir tat das Herz weh. Und dieses Jahr im Advent, ohne sie, da schmerzt es noch Tausend Mal mehr.

 

Trotzdem bin ich mit Freude erfüllt, wenn ich an die darauf folgenden Weihnachtsfeiertage mit ihr im vergangenen Jahr zurück denke, die die Stille und das Geheimnisvolle dieses Festes ausstrahlten. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich, dass wir in dieser hohen Zeit trotz des vorausgefühlten Trennungsschmerzes zusammen waren, beieinander im trauten Kreis. 

 

Als meine Mutter und ich dann am Ersten Christtag die Familie meiner Schwester besuchten, sagte unsere Mama beim Abschied, während sie durch deren Haustüre trat: „Jetzt komme ich ganz, ganz lange nicht mehr.“ Sie sprach das, zu meiner Schwester und mir gewandt, ziemlich langgezogen aus, und dieser Satz klang nicht wie andere Sätze, sondern kam wie aus einer unergründlichen Tiefe.

 

Wie sehr mich diese Worte am Torbogen trafen!  Wie sehr dieses tiefinnere Wissen unserer  Mutter, das aus einer anderen Welt zu kommen schien, mich bewegt hat. Auch sah ich, wie die Augen meiner Schwester sich mit Tränen füllten.      

 

Wären Mutters Worte gewesen: „Jetzt komme ich nicht mehr“, oder „Ich werde nicht mehr hierher kommen können“, dann hätte ich eine traurige Endgültigkeit heraus gehört und widersprochen. Ich hätte wie so oft beschwichtigt und abgewiegelt, denn ich wünschte so sehr, dass es ihr gesundheitlich bald besser gehe. Sie aber setzte unserer Gemeinsamkeit mit diesen Worten kein Ende. Stattdessen gab sie uns Licht und Liebe mit, indem sie nur ganz schlicht und wohl unbewusst, als wollte sie uns den Trost und die Gewissheit einer Wiederkunft geben, sagte: „Jetzt komme ich ganz, ganz lange nicht mehr.“

 

Dieses Jahr so nah vor dem Weihnachtsfest von Mutter und Kind, klingen in mir die Worte meiner Mutter wie eine adventliche Verheißung: Sie wird eines fernen Tages kommen, uns entgegen kommen, wenn wir, ihre Lieben, bei ihr am Tor der Ewigkeit angelangt sind.