Still erleuchtet jedes Haus
Opa Seifermann erinnert sich an
Weihnachten in seiner Kindheit
©Günter Neidinger
Opa Seifermann blätterte im alten Lesebuch aus seiner Schulzeit, das er
neulich beim Aufräumen auf dem Speicher gefunden hatte.
Er konnte sich an viele Geschichten
darin erinnern und besonders an die Gedichte, die man als Schulkind damals alle auswendig lernen musste. Sie waren nach Jahreszeiten geordnet.
Da es in diesen Tagen auf Weihnachten zuging, suchte er nach dem Gedicht, das er als Schüler einmal bei einer Weihnachtsfeier vortragen durfte. Es stammte aus der Feder des Dichters Joseph von Eichendorff.
Lampenfieber
Das Gedicht hieß „Weihnachten“. Opa Seifermann hatte die Seite aufgeschlagen und sah im Geiste den aufgeregten Buben auf der Bühne stehen, spürte, wie ihm die Knie zitterten und wie er beim Aufsagen fürchtete, dass es das Publikum in den ersten Reihen merken könnte. Aber es war alles gut gegangen und der Applaus hatte die innere Anspannung wieder gelöst. Opa Seifermann musste schmunzeln, als er daran dachte. Noch heute kannte er die vier Strophen auswendig:
Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus,
sinnend geh ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.
An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt,
tausend Kinder stehn und schauen,
sind so wunderstill beglückt.
Und ich wandre durch die Mauern
bis hinaus ins freie Feld.
Hehres Glänzen, heil‘ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!
Sterne hoch die Kreise schlingen,
aus des Schnees Einsamkeit
steigt‘s wie wunderbares Singen.
O du gnadenreiche Zeit!
Opa Seifermann dachte daran, wie er und seine fünf Geschwister es an Heiligabend kaum erwarten konnten, bis es dunkel wurde. Bei Einbruch der Dämmerung ging Papa mit ihnen durch die Gassen mit den still erleuchteten Fenstern zum alten gotischen Rathaus, wo ein riesiger Lichterbaum das Weihnachtsfest ankündigte. Die Musikanten der Stadtkapelle spielten, in dicke Mäntel gehüllt, die bekannten weihnachtlichen Weisen.
Zum Schluss erklangen „Stille Nacht“ und „O du fröhliche“.
Jetzt hieß es für die Geschwister, nichts wie schnell nach Hause! Sie mussten in der Küche warten, bis das silberne Glöckchen des Christkinds das Zeichen für die Bescherung im Wohnzimmer gab.
Dass es Mama war, die das Glöckchen betätigte, merkten sie erst mit den Jahren, aber
das tat der Freude keinen Abbruch.
Papa setzte sich ans Klavier und fröhlich klangen die Lieder von der gnadenbringenden
Weihnachtszeit hinaus in die sternenfunkelnde Christnacht.
Wenn dann das Jesuskind aus Wachs in die Krippe im Stall zu Ochs und Esel gelegt worden war, kam endlich die Stunde der Bescherung.
Viele Geschenke gab es nicht in den Jahren der Nachkriegszeit, aber genug um Kinderherzen glücklich zu machen:
Warme Sachen für den Winter, ein kleines Spielzeug und einen bunten Pappteller mit herrlich duftenden Lebkuchen, Springerle, Buttergebäck, Spritzgebackenem, Zimtsterne, ein paar Feigen, Nüsse und etwas Schokolade.
Und was gab es an Heiligabend zu essen? Würstchen mit Kartoffelsalat und Feldsalat, eine
einfache, aber recht schmackhafte Mahlzeit!
Opa Seifermann dachte an das kommende Weihnachtsfest. Die Gesichter seiner Enkelkinder sähen mit den Geschenken von damals bestimmt nicht sehr glücklich aus, aber Würstchen mit Kartoffelsalat aßen sie auch heute noch gern!