11. Dezember

 

TOM UND DER RIESE

 ©Karin Jäckel

 

„Bleib nicht zu lange!“ ruft ihm die Mutter nach.

Tom zieht die Schultern hoch, bis der Kragen an die Mütze stößt. „Nein“, sagt er. Er schaut der kleinen Wolke nach, die dabei aus seinem Mund flattert und versucht, Kringel zu blasen, wie sein Vater das so gern macht.  Dann geht er los.

Sein Schlitten klappert hinter ihm drein, denn auf dem Bürgersteig liegt kein Schnee mehr. Die Nachbarn haben schon früh am Morgen ordentliche Haufen am Straßenrand aufgeschippt. Sie sehen fast wie Dünen aus, so weiß und dick. Nur das Meer fehlt, denkt Tom.

Ein Nachbar klopft mit dem Fingerknöchel ans Fenster, als Toms Schlitten am Gartenzaun vorbeirappelt. Das Klopfen ist laut. Und der Nachbar schimpft. Tom kann nichts verstehen. Doch der Nachbar verzieht so grimmig den Mund, dass Tom sich vorstellen kann, was er sagt. Tom erschrickt. Er rennt ein paar Schritte, ehe er sich wieder umzublicken wagt.

Und da sieht er es: Hinter ihm ist ein Riese durch die Schneedünen am Straßenrand gewatet. Er hat Füße wie Elefantenbeine so groß. Jetzt ist er fort, klar. Wenn einer so wild und wütend an die Scheibe hämmert, kriegen sogar riesige Riesen Angst. Tom ballt die Fäuste. Er ist auf einmal böse, riesenböse.

„Jemandem Angst zu machen, ist feige!“ hat Vater gesagt. Auch Riesen Angst zu machen ist feige, denkt Tom. Und während er die Brauen finster zusammenzieht, fühlt er, wie der Riese ganz heimlich wieder aus dem Versteck schleicht und sich hinter seinem Rücken versteckt.

„Komm“, sagt Tom. „Ich beschütze dich.“

Dann gehen sie miteinander weiter, der Riese und er. Immer geradeaus über die Schneedünen bis zur Moorteichwiese, wo die Rodelbahnen sind.

Tom schaut ein bisschen zu, wie die anderen Kinder fahren, ehe er sich auf den Schlitten setzt.

Die Großen haben die Bahn scharf gemacht. Abends schütten sie Wasser über den Abhang. Wenn es über Nacht gefriert, zischen am Morgen die blank gewetzten Schlittenkufen nur so übers Eis.

Tom stellte die Füße schon mal neben die Kufen, ruckt den Schlitten hin und her. Nur so. Fahren will er noch gar nicht. Eigentlich weiß er nicht einmal, ob er überhaupt fahren will.

„Eis ist doof“, flüstert er dem Riesen zu, der hinter ihm sitzt.

Der Riese gibt keine Antwort. Tom ist völlig klar, warum nicht. Wenn er nur ein Wort sagte, würde seine Riesenstimme ja über die ganze Welt donnern, mindestens aber über die ganze Moorteichwiese, und dann wüsste es jeder: Der Tom hat einen Riesen. Und das, findet Tom, geht keinen etwas an. Also schweigt er.

Trotzdem spürt Tom, dass der Riese das Eis gar nicht doof findet. Er findet es sogar ganz toll.

Tom merkt im Nacken, wie ihn der Riese anschaut, fast ein bisschen enttäuscht und so, als wolle er am liebsten ganz verschwinden.

„Bleib da!“, flüstert Tom.

„Hey, Eiferpflaume!“ Das ist Stefan, der zwei Straßen hinter Toms Elternhaus wohnt. Er ist ziemlich groß und stark und zwei Mal so dick wie Tom. Mindestens. Mit „Eierpflaume“ meint er Tom. Das sagt er, weil Tom blond ist und ein bisschen ängstlich. Ängstlicher jedenfalls als der starke Stefan. Der ist aber auch schon zwei Jahre älter.

„Hast wohl die Hosen voll, was?“ Stefan lacht und hält sich übertrieben die Nase zu. Er macht einen Schritt auf Tom zu und schnellt den Arm vor. Er meint es nicht wirklich böse. Er will sich nur den Bauch halten vor Lachen, wenn der Kleine davonrennt.

Als Toms Schlitten ganz plötzlich und ganz schnell und ganz dicht an Stefans Bauch vorbei und „Zisch!“ den Abhang runter saust, wird aus Stefans Lachen vor Schreck eine schiefe Faschingsfratze. Er kann ja nicht wissen, dass hinter Tom ein Riese sitzt. Einer, der den Schlitten mit seinen langen Beinen einfach angeschubst hat, weil er Stefans Getue satthatte.

Aber Tom weiß es.

Der Riese hinter ihm auf dem Schlitten hält Tom mit beiden Armen fest und lacht und johlt die ganze Zickzackbrausefahrt lang. Und Tom lacht und johlt noch viel lauter. Er lenkt den Schlitten mit den Absätzen, bis dieser in weitem Bogen auf der Schneewiese ausläuft. Geradeso, als hätte Tom alles schon tausendmal geübt.

„Bleib nur sitzen“, sagt er zu dem Riesen, als der Schlitten hält, und steigt mit wackligen Knien ab. „Ich ziehe dich!“

Da macht sich der Riese mäuschenklein und federleicht. Aber Tom weiß trotzdem, dass er da ist.

Gerade rauscht Stefan vorbei. Die Augen noch ganz weit vor Staunen.

Tom winkt ihm zu, so mit zwei Fingern von der Stirn aus, wie Vater es manchmal macht, wenn er höflich sein muss, aber nicht sein will.

Stark, Tom fühlt sich stark, riesenstark.